Landesvertraglich vereinbartes Aufrechnungsverbot in NRW ist wirksam

Das LSG NRW hat mit Urteil vom 15.11.2022 – L 5 KR 742/20 seine langjährige Rechtsprechung zur Wirksamkeit des landesvertraglich vereinbarten Aufrechnungsverbots bekräftigt. Insbesondere sieht es auch keinen Verstoß gegen höherrangiges Bundesrecht: Weder liegt ein Verstoß gegen § 76 Abs. 1 SGB IV noch gegen § 71 Abs. 1 S. 1 SGB V vor. Auch der Neuregelung des § 109 Abs. 6 SGB V lässt sich eine Unwirksamkeit des landesvertraglichen Aufrechnungsverbotes nicht entnehmen.
§ 76 Abs. 1 SGB IV bestimmt, dass Einnahmen durch die Sozialversicherungsträger vollständig und rechtzeitig zu erheben sind. Unter die Norm fallen nicht nur Beiträge, sondern alle geldwerten Forderungen, die ihnen aus ihren öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Beziehungen zustehen Grundsätzlich fallen damit auch öffentlich-rechtliche Erstattungsansprüche der Krankenkassen gegenüber Krankenhausträgern unter die Norm. Die Norm steht jedoch einer vertraglichen Vereinbarung eines Aufrechnungsverbotes nicht entgegen. Denn die Vereinbarung eines Aufrechnungsverbotes im SVTr ist nicht gleichzusetzen mit einem gänzlichen Verzicht auf den Anspruch. Die Krankenkassen begeben sich damit lediglich jenseits der in § 15 Abs. 4 S. 2 SVTr geregelten Fälle der Möglichkeit, eine streitige Forderung geltend zu machen, ohne selbst den Klageweg beschreiten zu müssen. Der ihnen aus § 76 Abs. 1 SGB IV auferlegte Verpflichtung der Geltendmachung von Erstattungsforderungen können und müssen sie aber weiterhin durch außergerichtliche Einigungsversuche oder Klageerhebung nachkommen.
Auch der in § 71 Abs. 1S. 1 SGB V niedergelegte Grundsatz der Beitragssatzstabilität steht dem landesvertraglichen Aufrechnungsverbot nicht entgegen, weil deren Anwendungsbereich vorliegend schon nicht eröffnet ist. Die Norm bestimmt, dass die Vertragspartner auf Seiten der Krankenkassen und der Leistungserbringer die Vereinbarungen über die Vergütungen nach diesem Buch so zu gestalten haben, dass Beitragserhöhungen ausgeschlossen werden, es sei denn, die notwendige medizinische Versorgung ist auch nach Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven nicht zu gewährleisten. Absatz 1 Satz 1 erfasst daher nach seinem Regelungsgehalt alle Vergütungsvereinbarungen nach dem SGB V, die zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern geschlossen werden. Bei dem Vertrag nach $112Abs. 2 S. 1Nr. 1SGB V handelt es sich aber gerade nicht um eine Vergütungsvereinbarung. Das Bestehen von Vergütungsvereinbarungen ist vielmehr zwingende Voraussetzung für die vorliegend streitige Norm des § 15 SVTr. Erst das Bestehen eines konkreten Vergütungsanspruchs macht es nämlich möglich, eine Vereinbarung über , die Zahlungs- und Verrechnungsmodalitäten zu treffen (so auch LSG NRW, Urteil vom 22.12.2021 -L 11 KR 637/20 Rn. 49 <juris>). Selbst wenn man aber annähme, dass durch § 15 SVTr grundsätzlich eine Vereinbarung über die Vergütung getroffen würde, so bleibt festzuhalten, dass zumindest Abs. 4 der Norm sich nicht auf die von der Krankenkasse zu zahlenden Vergütungen bezieht, sondern auf die öffentlich-rechtlichen Erstattungsansprüche und deren vereinfachte Geltendmachung durch Aufrechnung durch die Krankenkassen. Die Erstattungsansprüche fallen aber nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 71 Abs. 1S. 1 SGB V nicht unter die darin enthaltene Regelung.
Schließlich lassen sich auch aus der zum 01.01.2020 neu geschaffenen Regelung des S 109 Abs. 6 SGB V keine Erkenntnisse über die Zulässigkeit eines bereits bestehenden Aufrechnungsverbotes gewinnen. Die Norm bestimmt, dass gegen Forderungen von Krankenhäusern, die aufgrund der Versorgung von ab dem 01.01.2020 aufgenommenen Patientinnen und Patienten entstanden sind, Krankenkassen nicht mit Ansprüchen auf Rückforderung geleisteter Vergütungen aufrechnen können. Die Aufrechnung ist nach Satz 2 allerdings möglich, wenn die Forderung der Krankenkasse vom Krankenhaus nicht bestritten wird oder rechtskräftig festgestellt wurde. In der PrüvV können zudem abweichende Regelungen vorgesehen werden. Nach der Gesetzesbegründung war diese Neuregelung notwendig geworden, weil Krankenkassen in der Vergangenheit Rückforderungsansprüche gegen Krankenhäuser wegen überzahlter Vergütungen durch Aufrechnung realisiert hätten, was zu Liquiditätsengpässen auf Seiten der Krankenhäuser geführt habe (BT-Drs.19/13397, S. 54). Der Gesetzgeber hatte also erkannt, dass zu weitreichende Aufrechnungsmöglichkeiten der Krankenkassen die Krankenhäuser in finanzielle Schieflage bringen konnten. Dies zum einen, weil durch Aufrechnungen die Krankenkassen ihre behaupteten Erstattungsansprüche schnell und ohne den Klageweg zu beschreiten geltend machen konnten. Zum anderen verlagerte sich so das Prozess- und insbesondere das Prozesskostenrisiko eines Klageverfahrens, in dem die klagenden Krankenhäuser zunächst den Kostenvorschuss einzahlen müssen, auf diese. Wenn der Bundesgesetzgeber aus diesen Gründen nun bundesgesetzlich ein weitgehendes Aufrechnungsverbot statuiert hat, so mag dies eine Neuerung darstellen. Dies sagt jedoch nichts über die Zulässigkeit bereits zuvor bestehender Aufrechnungsverbote aus. Vielmehr liegt es nahe, dass die Neuregelung gerade das Ziel verfolgte, die landesvertraglich sehr unterschiedlich geregelten Verrechnungsmodalitäten zu vereinheitlichen, weil bislang nicht in allen Bundesländern derartige Aufrechnungsverbote bestanden hatten. Wenn der Gesetzgeber einem bisherigen Missstand durch die Einführung eines bundeseinheitlichen Aufrechnungsverbotes begegnen wollte, so ist es fernliegend anzunehmen, dass er bereits bestehenden landesrechtlichen Aufrechnungsverboten ihre Zulässigkeit absprechen wollte. Die Revision zum BSG wurde zugelassen.
Ihre Ansprechpartnerin: Dr. Heike Thomae, Dortmund

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